Matze Schmidt. "Deplazierte Dilemmas". in: Kurd Alsleben und Antje Eske (Hg.). _Mutualitaet in Netzkunstaffairen_. Hamburg: material-verlag Hochschule fuer bildende Kuenste Hamburg, 2004. Books on Demand, ISBN 3-8334-1767-6, 244 Seiten, 19.95 EUR http://material-verlag.hfbk-hamburg.de/titel.php?id=260 ... irgendwann hatte ich, Matze Schmidt zusammen mit Karsten Asshauer / various euro, yagin, mi und Joerg "Jeux" Gruneberg, genug von den Open Spaces und Jam Sessions. wir wollten die virtuellen buehnen nie mehr aufbauen. keine Konzerte, kein DJ-Gestus. was wie eine nach hinten offene Erzaehlung beginnt und nach vorne apodiktisch wirkt, versucht Abstaende, also Differenzen zu detektieren. auf die Frage "was macht ihr?" antworten wir skeptisch, dasz wir nicht wissen WAS das ist, dasz wir nur annaehernd wissen WIE das ist. oder wir sagen: wir machen Deplazierte Dilemmas es gibt ja auch trilemmas und vielleicht quadrillionlemmas, erzeugungen von situationen, die anti-hierarchisch und freundlich und entscheidungsprobleme sind. die folgende szene verdeutlicht das: der widersacher und konkurrent des mafiabosses will seine von diesem entfuehrte braut befreien und geht zu ihm. der laeszt mit sich handeln, will seine gefangene aber nur zu einem unannehmbaren preis frei geben. der konkurrent und seine leute ziehen die pistolen und drohen zu schiessen. die leute vom mafiaboss tun das gleiche. es ist ein patt entstanden. der lauf der pistole des konkurrenten ist direkt auf den kopf seines intimfeindes gerichtet, der aber ist nicht (!) bewaffnet. er waere also der erste der stirbt und erst danach alle anderen, auf jeden fall aber wuerden alle sterben. eine ausweglose situation, die ihre aufloesung einfordert und notwendig macht und zwar jetzt, sofort. wer will schon fuer ewig, auszer Monty Python, in dieser stellung mit einer waffe an der schlaefe verharren? tatsaechlich gibt der boss sein ok zur freilassung und rettet damit sich selbst und allen das leben. fuer einen kurzen moment war er der wichtigste knoten im netz, der alles bestimmt, er war wirklich der boss, weil abhaengigkeitsverhaeltnisse expliziert wurden, die sonst implizit sind. das rueckgrad des netzwerks war ploetzlich spuerbar. Die Peaks und das Low-Fi aehnlicher relationalgefuege erzeugen die politische spannung der deplazierten dilemmas. dazu kursieren ansaetze von definitionen in kurzen theoremen: - wir veranstalten Plug-in Parties - es sind Dateiaustausch-Stammtische - "Wir treffen uns." - wir gestalten Umgebungen an unerwarteten Orten die vorstellung, das Taetig-sein am paradigma aesthetischer praxis und an der fantasie des machens zu orientieren, ist nicht frei von der distinktion, es alternativ und anderes machen zu wollen. doch ist jede neo-hippieske anschluszverweigerung verwertbar und konsumerabel. der imperativ "Bildet Heterotopien!", wie er von foucault aufgeklaerten funktionaeren und institutionen mit stiftungskapital im subtilen post-ton als double bind (wird kritik vom koenig befohlen, ist sie unmoeglich) ausgegeben wurde, ist bereits verinnerlicht. oder wurde nur die idee vereinnahmt? die definitionsmacht kommt nicht allein von oben. das "dahinter"stehende kollektiv, welches man bei unseren dilemmas vermutet, verweist aber lediglich darauf, DASS etwas lanciert passiert. und Passagen, diese Zwischenraeume zwischen den beruechtigten signifikanten lesbarer texte und den strukturalen loechern in den netzwerkanalysen, interessieren. es ist zum einen natuerlich das motiv der simplen suche nach Ab-Wechslung und zum anderen der versuch, schlichte zweischritt-logiken (das eine, das andere) zum spezialfall zu erklaeren. in, oder besser _auf_ netzen existieren dialektiken wohl nur als eine der moeglichkeiten des determinationsflusses, wie Michel Serres auf Seite 10 in seinem Buch _Hermes I: Kommunikation_ lehrt. wir machen Plug-in Parties. eine "Plug-in Party" hat im angloamerikanischen nicht nur die blosze konnotation des Gang Bang und der Sex-Orgie. wir haben das erst spaeter gemerkt, als der begriff schon die runde machte. Aber wir haben das nicht 'zu spaet' realisiert, denn sehr praezise geht es genau darum, die geheimen wuensche von produktion und aneignung und ihre klischees zu hypostasieren, sie zu inkarnieren und werden zu lassen. um was es geht, wuszten wir also bevor wir es wuszten. wenn man diese praktiken zu "Plug'n'Play Performances" labeln wuerde, wie es eine linke Radioszene tut, waere damit alles nur ins politisch korrekte verschoben. performances sind die sublimierung der orgie. was gibt es einfacheres, als einzustecken und zu spielen? und zwar ueberall! ich frage mich, warum tun wir es nicht auf der strasze? und ich frage micht nicht "warum wir es nicht auf der strasze tun". solche negativ-positiv-umkehrungen sind schoene rhetorische tricks. die rhetorik solcher performanzen, dieser durchbildungen, die mit schnellen preisguenstigen apparativen systemen (seit der Tonbandmaschine in den 1950ern und dem Sampler in den 1990ern) moeglich wurden, betrifft aber nicht allein das legendaere "material", in unserem fall material. die rhetorik wird auf die schnittstellen und die struktur bezogen. strukur, code und system sind, wie von der sabotage gelernt werden kann, an jedem ort und unort aktiv. solche orte bedingen den raum. raum entsteht an orten, er ist nicht container des kontinuums, sondern situativ. natuerlich gibt es den hang, sich zu exponieren und dennoch privat zu bleiben. ton wird waehrend unserer veranstaltungen nur fuer kopfhoerer produziert, so dasz hoerer, die nicht hoeren wollen, drauszen bleiben und der legendaere "dritte Raum" entsteht, wie er vom walkman und vom buecherlesen bekannt ist. aber das ist nur ein Modell von moeglichen. warum nicht im Peer-to-peer von soulseek das wiedererkennen, was wir machen? gesetzt wird ein weiterer raum an einem ort, der nicht nur rezeption oder nur produktion ist. in diesem abstand, vom raum der rezeption, vom raum der produktion zu dem des dilemmas (welches ein potentielles polylemma ist) - und nicht allein im sandkasten der verschalteten improvisations-maschinchen - besteht die offenheit aus differenz. zwischen dem hoerer ohne kopfhoerer und dem hoerenden mit zugang zum schaltkreis entfaltet sich ein unterschied. mit dem ergebnis, dasz die tuer zum konzertsaal klassischer musik in einer relektuere wieder etwas frischer gelesen werden kann, naemlich als exklusion/inklusion, oder als privat/oeffentlich. aber auch als poesis vs. praxis, entsprechend der unterscheidung von Herstellen eines Produkts und dem Handeln als Produkt in sich. am liebsten unterhielten wir eine art utopischen supermarkt ohne kasse, der die Verbindlichkit des Unverbindlichen verdeutlicht. der besucher koennte aus einer vilflalt von buchsen fuer seine stecker waehlen ohne den zwang etwas geben zu muessen. Zitat: "Folgt man den Thesen gesellschaftlicher Bewegungen als Deterritorialisierungen und Territorialisierungen (Deleuze/Guattari), und beobachtet man die gleichzeitige Entwicklung netzwerkartiger Handlungs-Strukturen, die von statischen Formen momentan in mobile Permanenzen uebergehen (Ubiquitaet des evernet), dann wird die empirisch nachstellbare Vorstellung von *Raum als distinktem Raum* einsehbar. Raum ist immer an Orten zu suchen, vor allem aber wird er durch Praktiken konstituiert.[1] Diese Praktiken schlieszen den Raum aber nicht ab, oder zer-stoeren in gar (Virilio). Peer-To-Peer Netze, LANs (Local Area Networks) und CLANs (die Selbstkonstruktion der zum LAN gehoerigen Gruppe), Funkdatennetzwerke (WLANs) und Plug-In Parties (Jam-Sessions mit Signal- und Datenaustausch) zeigen, dasz Asynchronizitaeten und verteilte Standards zwar nach technischen Kompatibilitaeten suchen, die kulturtechnischen Differenzen jedoch bestehen bleiben und in ihren Distinktionen selbst das Pontenzial aufzeigen, die Tendenzen der Framings von Raeumen nicht nur zu kritisieren, sondern ihnen sogar etwas entgegen zu setzen -- nichts als andere Rahmen naemlich. An soetwas wie eine "Medienlandschaft" ist nicht mehr positiv zu denken, sie hat nie bestanden. Sie sollte in einem Bild der Perspektive auf ein freies quasi ungeclaimtes Feld -- wie Microsofts standardmaeszig geladenes Desktophintergrundbild "Gruene Idylle" fuer "Windows XP" -- die Bedingungen der Moeglichkeiten von Medienverbuenden wegblenden. Die Systeme, die mit dem Projekt "Deplazierte Dilemmas" gemeint sind, Soundsysteme, Datensysteme, sind aber nur in Zusammenhaengen spatialer Translationen und Mediatisierungen zuhanden. Was wir operationabel machen wollen, ist nicht so sehr, kulturtechnische Grenzziehungen zu ueberwinden, sondern diese zunaechst einmal sichtbar zu machen. Raum wird nicht als Ressource verstanden, sondern als mediale Umgebung, als Produkt der Praxis. In ihrem "Netzkunstwoerterbuch" nennen Kurd Alsleben und Antje Eske Orte "offizioes", die weder private noch oeffentliche sind.[2] Das produktive Dilemma, des Projekts, ist eben dort verortet: zwischen der dichotomen Polarisierung des Privaten und des Oeffentlichen. Denn, so die These, beide Pole sind Phantasmen zur Herstellung politischer Konsense und Projektionen von Meinungen und Trends. Wo 'wir' uns aber aufhalten und wo 'wir' durchgehen sind Zwischenraeume des Offizioesen, trotz angeblicher live-Schaltungen und allseitiger Konnektivitaet einer Oeffentlichkeit. Das Offizioese besteht nur durch seine diskursive, multipel angelegte Praxis, und zwar im sog. Realraum, wie im sogenannten Hyperraum der Netze, deren Adressierungen erst produziert werden muessen. Deplazierte Dilemmas bauen und studieren Interaktions-Architekturen im Bereich der Elektroakustik und der Soundnetzwerke und stellen diese als partizipatorisch mutualistische Offene Raeume (Open Space) einem Publikum zur Verfuegung um damit praktisch zu testen, wie _offizioese Raeume_ gestaltbar sind. Technosoziale Kritikfaehigkeit an Konzepten des Oeffentlichen und des Privaten werden erkundet, akustische und datentechnische Verortungen in ihrer Produktion werden untersucht. _____ [1] Martina Loew. _Raumsoziologie_. suhrkamp, 2001. [2] http://www.netzkunstwoerterbuch.de " das klingt, mitten im hype der oekonomischen regulations-phantasmen, nach dem "Dritten Sektor", der freiwilliges Engagement und Selbsthilfe als solidarische prinzipien propagiert. diese rede rekurriert auch auf den sozialdemokratischen "Dritten Weg" der angeblich post-ideologischen ausbalancierung sozialer interessen. wenn die faktoren der prostitution und des mehrwerts sowie des variablen kapitals (dem arbeiter) aber noch nicht aufgehoben sind, dann bezeichnet dieser weitere raum, als "dritter", nur ein weiteres feld der aktivitaet, das weitgehend umschlossen bleibt von territorien weitaus maechtigerer maechte. "space is" eben nicht "the place" (Sun Ra), jede transzendentale trans-form ist gebunden an die historischen bewegungen usw. man sollte deshalb genau in diesen spaces, wie zum beispiel der neuen nationalgalerie in berlin spielen, um ihre funktion als kulturalistische fluchtraeume und schutzbiotope zu markieren. in einem allerersten schritt wird demnach alles strukturell und infrastrukturell gedacht, statt semantisch hergeleitet. dabei geht es etwa im vergleich mit der Gruppe "Involving Systems" (www.involving-systems.com), die selbstbedienungsmaschinen und soziale musikautomaten wie prototypische jukeboxes zur verfuegung stellen, jedoch ganz dilettantisch zu. wir sind keine jazz-musiker oder designer. das verhaeltnis zu automaten kann man *ja, aber* auch wie Marshall McLuhan als Servomechanismus, d.h. andersherum denken, dann wird der Bediener zum Be-Diener und nicht dem spieler wird die maschine, der maschine wird der spieler zur verfuegung gestellt. die Laptops und GameBoys, der Walkman, das Mobiltelefon, die Dinge, die wir lieben, schreiben programmatische programme vor, deren parameter den spielraum erst eroeffnen. die programme umzuprogrammieren hiesze fuer uns, zunaechst das habituelle des soziotechnischen zu durchlaufen. geraete haben immer ihre peripherie und sind nie vollstaendig geschlossen, auch wenn sie, wie die universelle maschine computer, vermeintlich alle anderen geraete emulieren koennen. ihre zwischenraeume liegen dynamisiert in ihrer inneren (zum beispiel der architektur des computerchips) und aeuszeren (wie den signalwegen bis zur digital/analog-wandlung) verschaltung. vor allem aber liegen sie im verhaeltnis zu einer phantasmatischen fantastischen uebertragung auf sie. wenn maschinen 'radikal' offen konfigurierbar sind, wie der computer, wuenschen wir uns das auch fuer die verhaeltnisse der produktion und uebertragen dabei dies und das. gelingende kommunkation nennt man das, aber der output ist so divergent und chaotisch und die kontrolle der summe so anti-ingenieurisch, dasz luhmann's "unmoegliche kommunikation" auch ganz gut passt. ja, wir machen uns lustig. "Und weil das so ist", ist ein sophistisches Textsample an der richtigen stelle exakter als die erklaerung: Improvisation im Klassenzimmer § 1 Leitung des Kurses (1) Der Direktor des Instituts fuer Improvisation bestimmt den Leiter des Kurses, sowie die organisatorischen Mitarbeiter. [...] § 5 Kursmodalitaeten (1) Die einzelnen Kurse finden in der Regel an einem Wochenende (Samstag 10-13 und 15-18 Uhr, Sonntag 10-13 Uhr und 15-18 Uhr) statt und haben somit einen Umfang von 12 Stunden. [...] (4) Die Auswahl der Kurse stehen den Teilnehmern frei. was ist nun das dilemma, und warum ist es deplaziert? einfach gesagt: will man sich heraushalten aus der systemstuetzenden kulturproduktion schoener kritischer dinge, musz man in die praktischen diskurse einsteigen, um ihre funktion zu verstehen, was eine zweifachheit der voraussetzung bedeutet. haelt man sich aber heraus indem man einsteigt? umformuliert: man steigt ein, indem man sich heraushaelt! denn der einstieg ist keiner in die mechanismen, es ist ein ausstieg. kein weggang aber ohne herkunft. herkunft und weggang sind die beiden momente der bewegung. tritt diese figur des weggehens am ort des geschehens der kritischen funktion auf (Miles Davis spielt mit dem Ruecken zum Publikum und er weisz, dasz das die Suspense erhoeht; die Popstarpose von Knarf Relloem ist nur gespielt, oder ist die gespielte Pose nur gespielt?), die ueberall eintreten kann - weil "kultur" eben nicht kunst und unterhaltung 'ist', sondern eine bestimmte spektive auf menschliche produktionsleistung - wird das dilemma vom ausstieg-einstieg paradoxal an dem ort, der das erwartet. wie in einem café oder auf der autobahn, wo alles erwartet werden darf. dann wirkt es falsch am ort und war dennoch erwartbar. aber nur als etwas deplaziertes, verweistes und verweisendes. zum beispiel auf: http://www.displaced-dilemma.de